Sightjogging

Stadtführung im Laufschritt

publiziert am 11.06.2016 in Allgemeines | kein Kommentar

Rund 21 Millionen Menschen sollen allein hierzulande mehr oder weniger regelmäßig die Laufschuhe schnüren. In Metropolen gehören die fleißigen Jogger fest zum Stadtbild. Aber hätten Sie gewusst, dass einige davon gerade eine Stadtführung unternehmen? Sightjogging oder auch Sightrunning nennt sich die wohl sportlichste Art des Sightseeings. Statt gemütlich hinter dem Guide herzudackeln oder sich vom Busfahrer herumkutschieren zu lassen, ziehen sich Laufbegeisterte die Sportklamotten an und verbinden das gesunde mit dem informativen.

Sightjogging ist nicht neu. In Deutschland war Gösta Dreise nach eigenen Angaben der erste Anbieter. Seit 2001 kann man ihn für informative Laufrunden durch Hamburg buchen. Die Idee dazu kam ganz zufällig: „Ich hatte Besuch von einer Freundin aus Düsseldorf, sie wollte sich die Stadt anschauen. Da haben wir einfach die Laufschuhe geschnürt und sind losgerannt. Unterwegs habe ich ihr dann einiges über Hamburg erzählt.“

Geschäftsleute wollen knappe Freizeit effektiv nutzen

Zu seinen Kunden zählen neben Touristen vorwiegend Geschäftsleute. Sie wollen die knappe Freizeit während einer Geschäftsreise effektiv nutzen und freuen sich während ihrer obligatorischen Laufeinheit etwas von der Stadt zu sehen und zu erfahren, in der sie berufsbedingt verweilen. Gerade diese Zielgruppe bucht ihre sportliche Stadtführung spontan, häufig erst am Vorabend. Gelaufen wird meist frühmorgens, vor Beginn des Terminmarathons, oder abends, nach einem anstrengenden Konferenztag.

Aber auch immer mehr Einheimische haben Interesse an geführten Touren. Sie wollen neue Laufstrecken kennenlernen und etwas Neues über ihre Stadt erfahren. Schließlich ist es auf die Dauer langweilig immer nur an Elbe, Rhein oder Spree entlangzulaufen. Damit alle Teilnehmer den Erzählungen des Guides lauschen können, müssen die Jogger nah beieinander laufen. Mehr als fünf Teilnehmer sind deshalb nicht möglich, besser maximal drei oder vier. Melden sich größere Gruppen an, werden sie nach Fitnessgrad auf verschiedene Stadtführer aufgeteilt.

Beate Achilles, ebenfalls eine Pionierin in Sachen Sightrunning, bietet ihren Kunden in Berlin vier Standardtouren an. So kann man sportlich den Verlauf der Mauer ergründen, den Tiergarten und seine Sehenswürdigkeiten entdecken, an der Spree entlang alte und moderne Prachtbauten bestaunen oder sich auf der Geschichtsrunde dem Dritten Reich und der Zeit der Teilung widmen. Die meisten Guides sind außerdem in der Lage auf die individuellen Interessen der Teilnehmer einzugehen.

Wer es lieber etwas langsamer angehen lässt, der kann bei Beate Achilles das Sightseeing sogar mit Nordic Walking verbinden. Da bleibt dann vielleicht etwas mehr Zeit für Anekdoten und Details. Den so eine Stadtführung im Laufschritt dauert konditionsbedingt maximal ein bis zwei Stunden und ist meist um die acht bis zehn Kilometer lang. Auch wenn der Führer ein gemäßigtes Tempo vorgibt, damit alle mitkommen und alles verstehen, gilt es stets in Bewegung zu bleiben. Bauwerke werden deshalb immer nur von außen beguckt.

Optimierungswahn statt Urlaubsgenuss?

Sicherlich ist es nicht jedermanns Sache schwitzend und stinkend Brücken, Denkmäler, Kirchen und Türme zu besichtigen. Aber Sightjogging ist nach 15 Jahren längst kein Trend mehr, sondern fester Bestandteil im Tourismusangebot. Neben den Stadtführern haben auch Fitnesstrainer die Aktivität als zusätzliche Einnahmequelle entdeckt. „Das Touristjogging ist für mich ein bezahltes Hobby.“ sagt Marathonläufer Gösta, der damit seine zwei großen Leidenschaften kombinieren kann – Laufen und Hamburg.

Die Nachfrage nach dieser Art des Lauftourismus ist weltweit groß. Es gibt ihn in ganz Europa, aber zum Beispiel auch in Australien und den Vereinigten Staaten. Nirgendwo ist das Angebot so groß wie in Deutschland. Nicht nur die Millionenmetropolen kann man unter Anleitung läuferisch erkunden, sondern auch viele kleinere Städte. Darunter beispielsweise Hildesheim, Karlsruhe und Münster. Sogar die Zeche Zollverein, Weltkulturerbe in Essen, lässt sich auf diese Weise entdecken. Die Preise für geführtes Sightjogging sind in etwa überall gleich. Eine Person zahlt für eine Stunde um die 60 Euro. Je mehr Laufbegeisterte zusammenkommen, desto günstiger wird es für jeden einzelnen.

Während die einen sich darüber freuen, während einer Stadtführung auch noch aktiv etwas für ihre Fitness und Gesundheit zu tun, sehen die anderen im Sightjogging das Gegenmodell des Entschleunigungstrends. Statt sich für eine Stadt Zeit zu nehmen und sich auf sie zu konzentrieren, wollen gestresste Perfektionisten in möglichst kurzer Zeit möglichst viel sehen. Optimierungswahn statt Urlaubsgenuss?

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