Zeitcafés in Moskau

Stempeln an der Kaffeekasse

publiziert am 11.06.2013 in Gastronomie & Hotellerie, Moskau | kein Kommentar

Aus Moskau strömend macht sich derzeit ein neuer Trend breit: Zeitcafés. Statt für verzehrte Getränke und Speisen zu zahlen, wird der Gast für die Verweildauer im Café zur Kasse gebeten. Nicht nur Gebäck, Kaffee und Tee sind in der oft minutengenau abgerechneten Nutzungsgebühr inklusive, sondern auch die Benutzung der bereitstehenden Brettspiele, Bücher und Musikinstrumente.

Zwei Rubel verlangt Iwan Mitin pro Minute. Das entspricht etwa drei Euro pro Stunde. Dafür bekommt man in Russlands Hauptstadt nicht einmal einen Cappuccino. Der junge Russe eröffnete mit dem Café Zifferblatt das wahrscheinlich erste Zeitcafé Moskaus. Sein Bestreben war nicht die Schaffung eines möglichst einträglichen Geschäftskonzeptes, sondern die Bereitstellung eines gesellschaftlichen Treffpunktes, an dem kein unfreundlicher Kellner zur Bestellung der nächsten Tasse oder dem alternativen Rückzug drängt. Überhaupt steht weder im Zifferblatt noch in den meisten anderen Zeitcafés die Kulinarik im Vordergrund. Es gibt zwar eine mehr oder weniger üppige Auswahl, doch mit traditionellen Kaffeehäusern kann weder die Qualität noch die Quantität mithalten. Auch Service spielt nur eine untergeordnete Rolle. Es wird Selbstbedienung praktiziert. Sich Essen oder Trinken mitzubringen ist zudem ausdrücklich erlaubt, ja wahrscheinlich sogar erwünscht.

Auch wenn es angesichts des Minutenpreises nicht jeder neue Gast gleich einsehen will, sind Zeitcafés keine Orte um zu hasten, sondern um entspannt zu verweilen, gerne mehrere Stunden. Damit die Zeitnahme nicht die Portmonees des meist jungen Publikums sprengt, werden im Zifferblatt nur die erste drei Stunden berechnet.

Oasen der Ruhe

In einer so hektischen Stadt wie Moskau sind die Zeitcafés Oasen der Ruhe. Hier gibt es keinen „Coffee to go“. Warum auch. Wer ein Café dieser Art aufsucht, der will sich mit Freunden treffen, neue Leute kennenlernen, die Seele baumeln lassen. Auf meist altem aber charmanten Mobiliar wird Belletristik gelesen, in die Klaviertasten gehauen oder „Mensch ärgere dich nicht“ gespielt. Vor dem Laptop oder Smartphone hocken nur wenige. Filmvorführungen, Lesungen und Vorträge sollen weitere Besucher anlocken.

Zahlreiche Zeitcafés wurden in den letzten Monaten in Moskau und anderen osteuropäischen Großstädten wie Kiew eröffnet. Nicht alle sind nach dem Geschmack vom Visionär Iwan Mitin. Cafébetreiber die Flachbildschirme aufhängen und Spielekonsolen aufstellen, die ohrenbetäubende Elektromusik erklingen lassen und Preislisten für allerlei kostenpflichtige Zusatzleistungen auslegen haben den Sinn der Institution Zeitcafé nicht verstanden. Mit ihrer Profitgier zerstören sie laut Mitin nicht nur die Atmosphäre, sondern vor allem die Grundidee. Eigentlich wollte er, dass sich die Menschen Zeit kaufen, stattdessen töten sie sie in entsprechenden Lokalitäten nur.

Mit Kostenoptimierern oder Sparfüchsen, die in möglichst kurzer Zeit ihren Mägen mit möglichst viel Nahrung füllen wollen, haben übrigens weder Iwan Mitin noch ähnlich agierende Zeitcafés Probleme.

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